„Einmal Alemanne, immer Alemanne“
Wie soll man ein Phänomen erklären, das wissenschaftlich im Grunde gar
nicht nachzuweisen ist? Emotionen zwischen verbitterter
Niedergeschlagenheit und seligem Glücksempfinden? Gefühle im
Spannungsverhältnis von positivem Gemeinschaftserlebnis und
enttäuschter Einsamkeit? Der Aachener Tivoli ist ein Ort, an dem diese
Ambivalenz er- und durchlebt wird, denn die Alemannia ist für ihre Fans
und Freunde nicht bloß ein Fußballverein, sie ist ein Stück
Lebensgefühl und ein ganz wichtiger Identifikationsfaktor. Ich behaupte
einfach mal: Die Aachener sind etwas mehr stolz auf ihre Stadt als
viele andere Städter. Wer so denkt, der investiert auch Emotionen in
seinen Club. So etwas gibt es auch in Dortmund oder St. Pauli,
wahrscheinlich auch in Kaiserslautern oder Freiburg. Aber Aachen
braucht sich hinter diesen Namen nicht zu verstecken, was im
traditionsreichen Stadion an der Krefelder Straße immer wieder bewiesen
wird.
Irgendwann machte jeden Alemannia-Fan ein Schlüsselerlebnis zum
Anhänger eines Vereins, der ihn im Grunde nicht mehr los läßt. Mir
passierte dies 1967, als Martinelli und Co. Göttingen mit 3:1 besiegten
und den Aufstieg in die Bundesliga perfekt machten. Damals gerade neun
Jahre alt, kapierte ich im Grunde gar nicht, was rein sportlich in
jenen Stunden geschah. Aber ich erlebte die Freude der vielen
Zehntausend, Eindrücke, die unauslöschlich sind. Diese Freude können
nur die Anhänger eines echten Traditionsvereins mit Ecken und Kanten,
Schrulligkeiten und auch mit Fehlern empfinden. In jenen Jahren waren
mir die Ergebnisse - auch nach dem Abstieg in die Regionalliga West -
wichtiger als Schulnoten. Wenn die Alemannia gewonnen hatte, dann ließ
sich der Rest auch regeln - wie auch immer.
Ich werde nie vergessen, wie ich als Steppke auf der Haupttribüne neben
Gerd Klostermann und Jupp Martinelli, die beide verletzt waren, sitzen
durfte. Plötzlich sprach Martinelli meinen Vater an, der ihn von Berufs
wegen kannte. Die Stunden erschienen mir endlos, bis ich meinen
Freunden erzählen konnte: „Mein Vater kennt den Martinelli!“ Naiv
unschuldige Begeisterung, eben jene Gefühlslage, aus der treue Anhänger
geschnitzt werden. Die Alemannia war bei uns Jungen immer ein Thema,
die Spieler konnten wir auch in den mageren Jahren allemal schneller
aufzählen als Lateinvokabeln, binomische Formeln oder Atommassen, mit
denen uns die Lehrer in der fußballosen Zeit quälten. Typen wie Heiko
Mertes, Rolf Kucharski, Willi Reuter oder Peter Hermann wurden zu
bestimmenden Figuren in einer Zeit, in der das Fan-Dasein auch schon
mal auf den Prüfstand geschickt wurde.
Ich werde nie vergessen, als Mitte der Saison 1974/75 die Devise
ausgegeben wurde: Wer mit einer Fahne ins Stadion kommt, braucht keinen
Eintritt zu zahlen. Mein bester Freund und ich zogen los und besorgten
Stoff, den meine Mutter zu einem gewaltigen schwarz-gelben Stoffbanner
zusammennähen mußte, so groß, daß wir nur in der obersten Reihe des
Würselener Walls Platz fanden. Alemannia verlor unter Horst Witzler bei
„unserer“ Fahnenweihe das Heimspiel gegen Hannover 96 1:3. Die Fahne -
sicher so teuer wie eine halbe Dauerkarte - haben wir nie mehr
mitgenommen und sind dennoch weiter in die Soers gepilgert. Denn die
Hoffnung war auf unserer Seite.
Und dann kamen die tollen Jahre, in den Erhard Ahmann auf dem
Trainer-Sessel saß. Als Spieler wie Jo „Monti“ Montanes, Matthias
Schipper, Wayne Thomas und Winnie Stradt eine Euphorie entfachten, die
sich in unbeschreiblichem Konfettiregen entludt. Fußball-Deutschland
blickte damals auf den Tivoli und seine außergewöhnlichen Fans.
Allerdings auch, als sich der hoffnungsvolle Libero Rainer Rühle 1981
das Leben nahm. Damals blieben erstmals die Uhren für kurze Zeit
stehen, Tore und Punkte wurden Nebensache. Die Erfolgskurve bekam einen
Knick.
So paradox dies klingen mag, aber der Fußball zeigte gerade damals sein
menschliches Gesicht. Es waren immer die ehrlichen Typen, die sich in
Aachen schnell in die Herzen des Publikums spielten. Leute wie „Monti“,
der Werner Fuchs 1984 beim Neuaufbau half und in Spielern vom Schlag
eines Eugen Hach, Gernot Ruof und Andreas Brandts Gleichgesinnte fand.
Ihnen verzieh man auch Niederlagen. Unvergessen das 0:2 im Pokal am 22.
Dezember 1985 gegen Borussia Mönchengladbach: Nach dem Schlußpfiff
mußte das Fuchs-Team zwei Ehrenrunden laufen - als Unterlegener. Sicher
auch ein Schlüsselerlebnis, nicht nur weil die Gladbacher Mannschaft
ebenso unfair agierte wie ihr mitgereistes Publikum. Die Alemannia-Fans
haben immer honoriert, wenn eine Formation auf dem Rasen das Letzte
gegeben hat. Der Tivoli braucht Ehrlichkeit, keine Stars und keine
Show.
Doch genau die bleibenden Qualitäten waren vor zehn Jahren verloren
gegangen. Spielern wie Waldemar Prusik, Detlef Krella oder Michail
Rousajew war letztlich egal, wo sie Fußball spielten. Der Absturz in
die Drittklassigkeit 1990 war programmiert. Auch Fußballgeschichte
wiederholt sich. Die Fußballbegeisterten, die stets
überdurchschnittlich stark zum Tivoli strömten, hatten auch in der
Oberliga beziehungsweise später der Regionalliga ein untrügliches
Gefühl dafür, wer sich mit dem Verein, der Stadt und damit auch mit
ihnen identifizierte. Und das waren nicht allzu viele. Gerade deshalb
wurde Werner Fuchs bei seiner Rückkehr mit offenen Armen empfangen.
Deshalb gestand man ihm auch Zeit und eine sportliche Durststrecke zu.
Er hat die Fans nicht enttäuscht und bleibt nicht nur deshalb über
seinen tragischen Tod hinaus Maßstab und Handlungsvorgabe. 130.000 Fans
in der dritten Liga 1998/99 sprechen Bände. Tränen der Trauer und der
Freude prägten das Stimmungsbild im Jahr 99 des Bestehens der
Alemannia. Die Ambivalenz der Gefühle wird zur bleibenden Konstanten.
Genau wie eine untrügliche Feststellung: Der Tivoli ist ein Pfund, mit
dem die Alemannia wuchern kann. Ein sicheres Pfand, auch in der 2.
Bundesliga. Die Aachener lieben ihre Alemannia. Auch diejenigen, die am
schnellsten und am lautesten schimpfen, denn bei ihnen ist - oft hinter
Schimpfkaskaden versteckt - die Enttäuschung am größten. Frei nach dem
Leitspruch anderer Traditionsclubs sagen nämlich im Grunde ihres
Herzens die meisten Anhänger: „Einmal Alemanne, immer Alemanne.“ Ein
sicherlich unerklärliches Phänomen - Gottseidank.
(Hans-Peter Leisten in "Der Tivoli-Rückblick - Alemannia Aachen 1949-1999")